Stefan Blankertz
Thomas von Aquin
Die Nahrung der Seele
Herausgegeben von Erhard Doubrawa
Schriftenreihe des Murray Rothbard Institut für Ideologiekritik in der edition g. 106
Gehorsamkeit gegenüber Gott bedeutet, der eigenen Vernunft zu folgen (selbst wenn diese sich irren sollte): Thomas von Aquins Botschaft, dass Gott nicht herrsche, weder über den Einzelnen noch über die Gesellschaft, ist die Grundlegung einer anarchistischen Ethik.
Dieses Buch stellt zentrale Textstellen des Aquinaten zur politischen Ethik vor (deutsch/lateinisch) und kommentiert sie nicht unter historischem, sondern aktuell sozialphilosophischem Interesse.
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Zum Geleit
von Erhard Doubrawa
In seiner »Beichte eines Ketzers auf dem Totenbett«, wie sein legendäres Spiegel-Interview im ersten Januar-Heft 1970 schon bald genannt wurde, sagt der Neomarxist Max Horkheimer, dass sein radikales Denken nur deshalb möglich gewesen sei, weil er an etwas Un-Bedingtes glaube, an Gott. Nichts fällt mir heute schwerer, als persönlich über meine Spiritualität zu sprechen. Das liegt vor allem daran, dass ich erlebte, wie die religiöse Sprache durch Amtskirche (n) und Dogmatismus missbraucht und geschändet wurde.
Ich entsinne mich gerne der Zeit, als ich mich während des Theologiestudiums in der katholischen Jugendarbeit im Bistum Fulda engagierte. Einmal im Jahr feierten wir gemeinsam die Kar- und Osterliturgie – von Mittwoch bis Ostersonntag in einem Tagungshaus in der Rhön.
In dem Gründonnerstagsgottesdienst wurde an das letzte Abendmahl Jesu erinnert. Der Priester wusch Gemeindemitgliedern die Füße. Das soll seine Haltung der Demut bei der Ausübung seines Amtes ausdrücken sowie diese Haltung in ihm festigen. Danach wurde gemeinsam das Abendmahl – die Heilige Kommunion – begangen und schließlich eine ganze Nacht lang die Monstranz mit dem »Leib Christi«, dem Brot des Abendmahls also, auf dem Altar »zur Anbetung ausgesetzt«. Von Zeit zu Zeit gingen wir – jeder für sich – in die Kapelle und knieten oder setzten uns für eine Weile dort hin. Setzten uns der Gegenwart des »Leibes Christi« aus. Meistens saß ich schweigend da. Formulierte kein Gebet, sondern blickte zur Monstranz und lauschte in mich hinein.
Ich entsinne mich besonderer Momente während dieses Schweigens, die von einer großen »Dichte« gekennzeichnet waren, so als sei die Atmosphäre, ja ganz wörtlich: die Luft im Raum, dichter. Als würde ich in der Meditation spüren, dass da etwas ist. Etwas, mit dem ich dort in Berührung komme. Ich habe das innere Bild, als würde ich von außen mit der Hand an etwas heranreichen. Es sanft ertasten. »Da ist etwas«, kann ich dann sagen. Mehr nicht. Nicht einmal, dass da ein »Etwas« wäre. Das wäre schon zuviel gesagt.
Dieses Erleben hat eine beruhigende, wärmende und verbindende Wirkung. Ich spürte, dass ich mich innerlich öffnete. Mein Brustraum weitete sich, wie bei einem tiefen, wohltuenden Atemzug. Ich fühlte eine erfrischende Wirkung in mir. Mein Geist ist ganz klar. Dann nehme ich war, dass sich auch mein Blickfeld weitet. Es ist, als spürte ich diese weitende Wirkung auch in meinem Geist. Ich nehme Wärme in mir wahr. Eine sanfte Ergriffenheit. Und vor allem Freude und Leichtigkeit. Ich atme noch etwas mehr durch. Mein Blick richtet sich nun in die Ferne.
Zu diesem Erleben in der Meditation gehört noch etwas anderes: Ehrfurcht. Ich empfinde Ehrfurcht. Mein Kopf senkt sich leicht, wenn ich diese Berührung und Verbundenheit spüre. Das ist nicht etwa ein unangenehmes Empfinden. Es löst vielmehr eine ganz friedliche und freundliche Stimmung in mir aus. Und Demut.
Manchmal komme ich heute während der therapeutischen Arbeit mit einer ähnlichen Dichte in Kontakt, wie ich sie in den gerade beschriebenen »Heiligen Nächten« erlebt habe. Ich denke da an die besondere Atmosphäre, die bisweilen in einer Therapiegruppe entsteht, wenn tiefe therapeutische Prozesse stattfinden. Eine besondere Dichte ist dann im Raum spürbar und eine besondere Nähe, als seien alle Anwesenden miteinander verbunden, als seien wir alle einander so nah, dass »kein Blatt Papier mehr dazwischen passen würde«. Gleichzeitig nehme ich dabei jeden Einzelnen als Einzelnen war, als klar differenziert und auch als getrennt vom Anderen. Ich nehme also auch den Raum zwischen den Einzelnen wahr. Den Abstand. Die Grenzen. Also: Verbundenheit und Getrenntsein.
Das sind therapeutische Prozesse, die ablaufen, ohne dass ich da etwas mache oder der Klient da etwas macht. Vielmehr geschieht uns etwas. Etwas geschieht uns, das wir so nie und nimmer hätten »machen« können. Manche mögen es Zufall nennen – und in der Tat ist es etwas, was uns »zufällt«. Es ist mir dann, als würde etwas in diesen unseren Therapieraum hineinwirken, eine größere Gestalt, an der ich nichts »machen« darf. Meine Aufgabe als Therapeut ist es, das Feld offen zu halten, damit es seine Wirkung weiter entfalten kann.
Heute nenne ich das wieder »Gnade«. Das verdanke ich den Auszubildenden an unserem Institut. Auf einmal begannen sie, eine religiöse Sprache zu benutzen, als sie mit den ersten Übungsklienten arbeiteten. Sie nannten es eine »Gnade«, einen Klienten therapeutisch begleiten zu dürfen. Dieses Wort »Gnade« klang dabei so klar, so rein, wie ich es nur ganz selten vorher habe klingen hören. So haben die Trainees mir Mut gemacht, selbst auch wieder so zu sprechen.
Noch diesen letzten Gedanken zur Gnade: Sie ist ein unverdientes Geschenk. Ein Geschenk, das – wie der evangelische Theologe und Märtyrer Dietrich Bonhoeffer formulierte – ergriffen und genutzt werden will. Doch vorher müssen wir bereit sein, uns von ihr ergreifen zu lassen. Gnade ist also ein Geschenk, das nur den Vorbereiteten trifft. Den, der offen dafür ist. Den, der an seiner Öffnung gearbeitet hat. Den also, der seine Aufmerksamkeit – wir Gestalttherapeuten sagen Awareness – geschult, seine Achtsamkeit entwickelt und seine Präsenz zu halten gelernt hat. Dazu kann die gestalttherapeutische Arbeit beitragen. Auf diese Weise wird sie zur Seelen-Sorge.
So bin ich letztlich doch dort »gelandet«, wo ich schon mit meinem Theologiestudium hinwollte: bei der Seelen-Sorge. Nur eben nicht in der verfassten Kirche. Die katholische Kirche habe ich übrigens Mitte der 1980 er Jahre verlassen. Der äußere Anlass dafür war ein Filmbericht vom Besuch des damaligen Papstes in Nicaragua, nachdem die Sandinistische Befreiungsbewegung die Somoza-Diktatur gestürzt hatte. Dort hatte Johannes Paul II den Priester, Dichter und Politiker Ernesto Cardenal, der vor ihm zur Ehrerweisung niedergekniet war, wegen linken politischen Engagements mit erhobenem Zeigefinger gescholten.
Nein, zu einer solchen Kirche wollte ich nicht gehören. Die anschließende Zeit habe ich als eine Art Heimatlosigkeit erlebt und bin dann einige Jahre später der evangelischen Kirche beigetreten – als ein »Exilkatholik«, wie ich damals gerne im Spaß sagte. Da ist sicher mehr als ein Funken Wahrheit dran, denn heißt es nicht: »Einmal Katholik – immer Katholik.«
In den Denk-Räumen, die Stefan Blankertz uns durch und im ernsten Ringen mit Thomas von Aquin (er) öffnet, fühle ich mich heimisch: Gott herrsche nicht!
Erhard Doubrawa, Gestalttherapeut und Leiter der Gestalt-Institute Köln und Kassel (GIK)
3o4 Seiten, [D] 21,80 €
ISBN 978-3-7386-4842-3