Stefan Blankertz

Was kann Literatur?


»Literatur ist anti-autoritär. Sie schreibt dir nicht vor, was du sehen sollst. Sie vermag es nicht, selbst wenn der Wortmetz es wollte.« Mit diesem Statement eröffnet der Autor seine Reflektionen zur zeitgenössischen Literatur und seinem eigenen Schaffensprozess, überschreibt es aber mit »Frommer Wunsch«. Alles Lüge? Es geht um das Doppelbödige und unbestimmte der Literatur, im Positiven wie im Negativen. Er lässt seine bevorzugten Schriftsteller Revue passieren, vor allem Arno Schmidt, Mario Vargas Llosa und Juan Carlos Onetti, und fragt sich nach den eigenen Kriterien, nach denen er gute von schlechter Literatur scheidet – und ob diese Kriterien eine gewisse Allgemeingültigkeit beanspruchen können.

»Lyrik ist, wie das Böse überhaupt, infektiös. Platon sagt, dass bereits der geringste Kontakt mit Dichterworten sogar die charakterfeistesten Personen, die er zur Führung der Staatsgewalt berufen sieht, im Nu zu den schlimmsten Memmen macht.

Religiöse Fanatiker aller Zeiten und aller Religionen lieben die Staatsgewalt, weil sie ihnen ermöglicht, die Gläubigen vor Kontakt in Schrift und Bild mit dem zu bewahren, was selbst den gefestigten Gläubigen unverzüglich in einen begeisterten Sünder verwandelt. Im Revers liebt die Staatsgewalt religiöse Fanatiker, seien es nun transzendente oder immanente Gläubige.

Die guten Bilder und Worte sind machtlos. Die bösen sind allmächtig. Lasst uns also die Staatsmacht entfesseln, um die bösen Worte und Bilder zu vertilgen.«

»Ob es die Verpflichtung auf Fortschrittlichkeit, Moral, Natur, Religion, Sittlichkeit, Tradition, Volk, Gesundheit oder Gebrauch des Gendersternchens ist, der Eingriff in Sprache, auch der kleinste, tötet den Geist der Literatur. Doch die Macht der Literatur ist so groß, dass selbst der, der ein treuer Lakai der Macht sein will und alle ihre Befehle gehorsam ausführt, früher oder später dem Verdikt des Machthabers verfallen und als ein Ketzer verbrannt werden wird: Denn die Logik der Macht verlangt, dass man sich stets den wechselnden Bedingungen unterwirft, während das, was ich geschrieben habe, festgehalten ist. Sogar wenn ich es in Gehorsam widerrufe, bleibt es ein Stachel im Fleisch der Macht, bis es vollständig getilgt ist.«

»Im Puff der Sprache. — Die Welt, unsere Welt, sei aus Worten aufgebaut. Geschenkt. Befehle gelten Konstruktivisten als gebrüllte Beispiele für die performative Macht der Sprache, eine Wirkung, die ohne Sprache oder sprachähnliche Zeichen und Gesten nicht existierte. Dagegen. Ein Befehl ohne Mikrophysik der Macht, ohne Politik am Körper würde verpuffen. Der Schmerz muss sich in den Körper einschreiben und sei’s als (sprachgedanklich) antizipierte Drohung. Ernst Jünger ist ein inkarniertes Beispiel. Der Kerl kannte keine Angst, weil er anscheinend keinen Schmerz kannte. Folglich vermochte keiner, ihn zu disziplinieren. Im Krieg hielt ihn weder Feindbeschuss vom Schlaf ab noch veranlassten ihn Strafandrohungen durch die eigene Seite, vor denen die Kameraden zitterten, Befehlen Folge zu leisten. Er tat, was er tat, scherte sich den Teufel um Befehle. Nach dem Krieg hantierte er mit allen illegalen Drogen, die die Apotheke Gottes und der Hexenkessel der Chemie zu bieten hatten. Gefahr einer Kriminalisierung konnte ihm nichts anhaben.

Auch schöne performative Akte wie die Rede von der Liebe kommen ohne eine Substanz nicht aus, wie feinstofflich sie auch sein mag. Gott musste sich erstmal als Mensch verkörpern, um seine Liebe zu ihm zu empfinden, weil er am eigenen Leib das Leiden erfuhr. Wenn das Herz nicht schlüge, wo wäre dann die Liebe? Wenn sie nicht durch den Magen ginge, wo ginge sie hin?

Im Kontext des Erzählens schmeckt ›konstruiert‹ schal. Eine Handlung, eine Figur gilt als ›konstruiert‹ – jeder Wortmetz schlottert vor diesem Verdikt –, wenn sie auf Prinzipien beruht und nicht ›aus dem Leben‹ hervorgeht, also nicht mit Widersprüchen behaftet ist. Obacht: Selbst die Widersprüche dürfen nicht »konstruiert« anmuten.

Das Partizip konstruiert steht hier gegen das (nicht unbelastete) Adjektiv organisch. Spontane Ordnung (Hayek), die aus freier Vereinbarung (Kropotkin) hervorgeht, entsteht, wenn die Konstruktionen zweier oder mehr Per­sonen aufeinanderprallen, in Kontakt treten. Kontakt sei die erste Wirklichkeit, sagt Paul Goodman. Er kannte den Konstruktivismus noch nicht. Aber er behält Recht gegen ihn: In was für Wahngebilde eine Einzelperson oder ein (konfluentes) Kollektiv sich auch verspinnen mag, an der Kontaktgrenze schlägt die Stunde der Wirklichkeit, gegen die auch keine Dichtung mehr wappnet.«

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Leseprobe


164 Seiten, [D] 10,00 €
ISBN 978-3-7557-3357-7